Sonntag, 2. Oktober 2011

Wie lange ich in der Klinik war, habe ich vergessen. Bei meinem Einzug habe ich mein Zeitgefühl verloren und es bis jetzt - drei Tage nach meiner Entlassung - noch nicht wiedergefunden.
Warum? Ich hatte versucht, mir das Leben zu nehmen, habe mir die Pulsadern aufgeschnitten. Das war mein erster Fehler. Der Fehler, der alles darauffolgende erst ins Rollen gebracht hatte.
In der Klinik war ich unbeliebt. Von Anfang an. Weil ich mit niemandem gesprochen habe. Nicht mit meiner Therapeutin, nicht mit meiner Zimmergenossen, einfach mit niemandem. Und irgendwann haben sie mich entlassen. Weil sie die Hoffnung aufgegeben hatten. Weil sie mich aufgegeben hatten. Hätte nicht gedacht, dass sie so nachgibig sind. Sie sahen keinen Sinn mehr darin, mich weiter dazubehalten, da sie sicher waren, dass ich nicht reden würde. Und ich habe es auch nicht getan. Bis zum Schluss. Mit niemandem.

Freitag, 16. September 2011

Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Die Verzweiflung, sie erdrückt mich. Ich will nur weg. Ich hasse diese Welt.
Mir ist schwindelig. Alles ist schwarz, alles ist dunkel. Nichts ist wirklich hier. Eigentlich ist das alles hier nur ein großes, schwarzes Nichts. Ich stütze meinen Kopf in die Hände und kauere mich auf dem Schulflur so eng zusammen, wie ich nur kann. Ich merke, dass jemand gegen mich fällt. Und dann spüre ich ein Klopfen an meiner linken Schulter. Ich sehe auf, obwohl ich längst weiß, dass es L. ist, der mich mit seiner roten Krücke angestoßen hat. Eine Krücke, die er schon lange nicht mehr braucht, sie aber trotzdem noch benutzt, um mich zu nerven.
"Lass mich", hauche ich schwach. Ich kann nicht mehr. Ich kann wirklich nicht mehr.
Er geht nicht, sondern pickst mich weiterhin provuzierend in die Schulter.
Ich gebe auf, ich habe keine Kraft mehr. Das alles hier ist gar nicht echt. Ich schließe die Augen. Dann fasst mich halt an. Betatscht mich alle, wo wie und wann ihr wollt. Es ist mir egal. Ich fühle mich dreckiger als jede Schlampe. Ich kann nicht mehr. Verzweiflung, Euphorie und Angst. Die Erde scheint zu kippen. Erst nach rechts, dann nach links. Mir gefällt das. Sie kippt, sie fällt. Und ich sitze hier, unsicher ob ich nicht gleich ebenfalls umkippen werde. Ich schlafe ein und werde erst wieder wach, als Vanessa sich neben mich stellt und L. von uns wegdrückt. Nicht aufsehen. Ich kann nicht aufsehen. Ich will weiterhin spüren, wie die Welt kippt. Wie wir alle in unser Unglück stürzen. Ich will wieder mit dem Tod tanzen. In einem schneeweißem Kleid auf einer schneeweißen Winterlichtung. Ein unbekannter, schwarzer Mann, der mich durch den weißen Schnee wirbelt. Irgendwann bemerke ich, dass Vanessa gegangen ist. Ich möchte weitertanzen, ich möchte sterben, ich möchte die Welt kippen lassen. Irgendwann bringe ich euch alle um.

Mittwoch, 14. September 2011

Ihr Gesicht ist leicht gebräunt und wird von ihren langen, blonden Haaren liebevoll umrahmt. Ihre Augen strahlen blau mit einigen goldenen Sprenkeln rund um die Pupille. Viele Menschen beneiden sie um ihre Augen. Viele, einschließlich mir.
Nachdenklich sitzt sie da, wie immer umgeben von ihren beiden besten Freundinnen, Vanessa und dem anderem Mädchen, dessen Name ich mich weigere in den Mund zu nehmen.
Ihre Haare glänzen den Glanz, der entsteht wenn Wasser auf Hairspray trifft. Auf ihren viel zu stark getuschten Wimpern kleben Regentropfen. Ich stelle fest, dass sie hübsch ist.
Während sie redet, fuchtelt sie wild mit den Händen in der Luft rum. Etwas, das wir beide gemeinsam haben.
Mein Blick folgt den hastigen Bewegungen ihrer Hände und bleibt dann an ihren Fingernägeln kleben. Ihre Fingernägel sind wahre Kunstwerke! Nagellack, Nagellack in allen Farben. Rot, grün, blau, gelb, lila, türkis, weiß oder schwarz. Mit perfekt aufgemalten Motiven verziert. Smileys, Blumen, Herzen oder die Anfangsbuchstaben ihrer liebsten Menschen.
Ihre beiden Freundinnen reden eifrig durcheinander. Sie sind abhängig von ihr, sie sind süchtig. Süchtig nach ihren blonden Haaren, süchtig nach ihren blauen Augen, süchtig nach ihrer Beliebtheit. Ja, sie ist beliebt. Weil sie einfach mit jedem klarkommt. Weil sie einfach sympathisch ist. Weil sie einfach etwas hat, was kein anderer hat. Etwas, das ich schon seit geraumer Zeit versuche in Worte zu fassen. Doch ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Und so stehe ich jeden Tag aufs Neue vor ihr und denke mir: Was hat sie, was sonst niemand hat?


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Montag, 12. September 2011

Ich bin blind für alles um mich herum. Für mich gibt es einzig und allein die rote Flüssigkeit, die sich eilig um meinen Arm schlängelt und dann auf das durchtränkte Taschentuch unter mir tropft. Auf meinem linken Oberarm klaffen drei große Schnitte umgeben von lauter kleinen Kratzern, die dafür aber stärker bluten als sie eigentlich dürften.
Ich zerre hektisch am Bund meiner Jogginghose, ziehe sie mir runter bis auf die Knie. Der weiche Stoff gibt den Blick auf zwei von abertausenden roten Strichen bedeckte Oberschenkel frei.
Wie im Rausch ramme ich das kleine Metallstück in meiner Hand in das Fleisch. Rote Perlen kullern mein Bein hinunter.
Langsam richte ich mich auf. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Ein Rinnsaal aus Blut fließt mein Bein hinunter, auf der Suche nach dem schnellstmöglichem Weg nach unten. Ich vergöttere diesen Anblick.
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Es tut mir Leid.

Freitag, 9. September 2011

"Ohne den Sinn ihrer eigenen Existenz zu begreifen, ohne zu wissen ob sie dem Leben oder dem Tod den Vorzug geben soll, wandert eine kleine Seele rastlos umher. Und den Schmerz, den sie empfindet wenn sie jemandem begegnet, kann sie nur lindern, indem sie ihn weitergibt. Statt einer Träne muss es Blut sein, das fließt. Und so wird ein Mädchen zum Monster."
© Elfen Lied, Vorschau auf Folge 7.

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